von Dr. Gerald Pärtan

Bereits kurz nach der Einführung der Röntgendiagnostik wurde ein Gonadenschutz erstmals angewendet, um männliche Sterilität zu verhindern. In den 1950er-Jahren steigerte sich angesichts der Auswirkungen der Atombombenabwürfe 1945, der damaligen oberirdischen Kernwaffentests, der zunehmenden Zahl von Kernkraftwerken, sowie auch der zunehmenden medizinischen Anwendung ionisierender Strahlung, die Bestrebungen zu einer Dosisreduktion für die Patient:innen. In den damaligen Empfehlungen der Internationalen Strahlenschutzkommission (1) wurde die systematische Verwendung einer Abschirmung der Gonaden empfohlen. In weiterer Folge wurde der Schutz auch auf andere Organe ausgeweitet. Damit sollten alle jene Körperstrukturen vor direkter oder indirekter Strahlung geschützt werden, welche für die jeweilige Untersuchung nicht von diagnostischem Belang sind.

Diese Praxis ist insbesondere im letzten Jahrzehnt einer zunehmend kritischen wissenschaftlichen Betrachtung unterzogen worden, die gezeigt hat, dass Abschirmungen an Patient:innen wenig wirksam sind und sogar mehr unerwünschte Effekte mit sich bringen als bislang angenommen:

  1. In den letzten Jahrzehnten hat sich entgegen früheren Annahmen gezeigt, dass die üblichen diagnostischen Strahlendosen am Menschen – von der Krebsinduktion abgesehen – weder bei einer Bestrahlung der Gonaden hereditäre Effekte noch bei der Bestrahlung des ungeborenen Kindes Missbildungen verursachen.
  2. Wie vielfach nachgewiesen, sind Schutzabdeckungen in der Praxis und insbesondere an eingeschränkt kooperationsfähigen Patient:innen sehr schwer korrekt zu positionieren. Sie verdecken einerseits immer wieder anatomisch interessante Körperabschnitte und verbergen dadurch potenziell pathologische Veränderungen. Andererseits führen sie auch immer wieder zu einer Dosissteigerung, wenn sie ins Messfeld der Expositionsautomatik gelangen (2,3).
  3. Selbst optimal positionierte Abschirmungen reduzieren das ohnehin geringe strahleninduzierte Krebsrisiko nur in einem bescheidenen Ausmaß (4).
  4. Die Strahlendosis diagnostischer Untersuchungen hat sich im Laufe der letzten Jahrzehnte durch technische Fortschritte und verbesserte Praxisstandards teils beträchtlich reduziert. Die im Optimalfall durch Schutzabdeckungen erzielbaren Dosiseinsparungen verloren daher weiter an Bedeutung (3).
  5. Die Verwendung von Strahlenschutzabdeckungen kann sogar zu einem trügerischen Sicherheitsgefühl führen, welches die Aufmerksamkeit von wirkungsvolleren Strahlenschutzmaßnahmen weglenkt.

Deshalb wurden seit 2018 weltweit Empfehlungen maßgeblicher Fachgesellschaften publiziert (4-7), solche Abschirmungen (Strahlenschutzmittel, umgangssprachlich Bleischürzen) an Patient:innen, für Radiographie, Durchleuchtung und CT, inklusive Kindern und Schwangeren, nicht mehr zu verwenden.

Um diesen Entwicklungen auch in Österreich Rechnung zu tragen, wurde im August eine gemeinsamen Empfehlung des Gesundheitsministeriums und relevanter Fachgesellschaften (Bundesfachgruppe Radiologie der Österr. Ärztekammer, rt Austria, ÖGMP, VMSÖ) zur Nicht-Verwendung von Strahlenschutzmitteln an Patient:innen herausgegeben:
https://www.strahlenschutz.org/web/index.php/leitlinien/137-roentgenuntersuchungen-und-strahlenschutzmittel-empfehlungen-fuer-anwender-innen-und-information-fuer-patient-innen.

Diese Erkenntnisse und Empfehlungen betreffen nur die strahlenexponierten Patient:innen. Für beruflich exponiertes Personal sowie Betreuungs- und Begleitpersonen bleibt die Vorschreibung entsprechender Schutzausrüstung aufrecht!

Im Gegensatz zur immer wieder geäußerten Annahme, dass die rechtliche Situation zur Verwendung von Strahlenschutzmitteln an Patient:innen zwingt, lässt die konkrete Formulierung im §13(3) der Medizinischen Strahlenschutzverordnung („ Zum Schutz von Patientinnen/Patienten, Personal sowie Betreuungs- und Begleitpersonen sind geeignete Strahlenschutzmittel in ausreichendem Maße vorrätig zu halten und, soweit es die Art der Anwendung erfordert und es mit dem Untersuchungs- oder Behandlungszweck vereinbar ist, auch zu verwenden.“) hier entsprechende Flexibilität zu.

Lediglich die Zahnmedizin betreffend war im §31(1) mit dem Satz „Die Patientinnen/Patienten sind durch Schutzschürzen oder Schutzschilde zu schützen, sofern nicht technische oder anatomische Gegebenheiten dagegensprechen“ eine Formulierung vorhanden, welche im Zuge einer Novelle der Strahlenschutzverordnung am 30.8. 2024 aber ersatzlos gestrichen wurde:

Dieser Paradigmenwechsel trägt ein beträchtliches Irritationspotential in sich – sowohl beim Fachpersonal als auch auf Seite der Patient:innen und ihrer Angehörigen. Mit den oben erwähnten österreichischen Empfehlungen werden Aufklärungsmaterialien zur Verfügung gestellt, welche auch als Aushänge in Röntgeninstituten die Aufklärung von Patient:innen und Angehörigen unterstützen. Ähnlich haben auch Fachverbände selbst (insbesondere auf Seiten der Radiologietechnologie) sowie Einzelpersonen in diversen sozialen Medien Aufklärungsarbeit geleistet.

 

Hat sich der medizinische Strahlenschutz jetzt überhaupt erübrigt?

Man könnte zur Ansicht gelangen, dass angesichts der oben angesprochenen bedeutenden Reduktion der Strahlendosis von Röntgenuntersuchungen die Daseinsberechtigung des medizinischen Strahlenschutzes an Bedeutung verliert.

Wir meinen: mitnichten.

Der Dosisreduktion von einzelnen Röntgenuntersuchungen steht eine Zunahme der Zahl solcher Untersuchungen entgegen, was eine Reduktion der Bevölkerungsdosis aus medizinischen Quellen bisher verhindert hat.

Die karzinogenen Effekte auch niedriger Strahlendosen wurden gerade in jüngerer Zeit durch mehrere große epidemiologische Studien an Kindern und Jugendlichen bestätigt, die einer oder mehrerer Computertomographien unterzogen wurden. Die bisherigen Annahmen hinsichtlich der Gültigkeit der LNT-Hypothese (das strahleninduzierte Krebsrisiko wächst linear mit der Strahlendosis, und es gibt dafür keinen unteren Schwellenwert) sind durch diese Studien – auch quantitativ – bestätigt worden (8).
Die Abwägung zwischen Nutzen und Risiko radiologischer Untersuchungen ist insbesonders im Sinne einer patientenzentrierten bzw. „value based radiology“ (9, 19) jedenfalls mehr denn je unverzichtbar.

Referenzen:

  • ICRP (1955) Supplement No. 6. Recommendations of the International Commision on Radiological Protection. Br J Radiol 1–92
  • Kaplan SL, Magill D, Felice MA, Xiao R, Ali S, Zhu X. Female gonadal shielding with automatic exposure control increasesradiation risks. Pediatr Radiol. 2018;48(2):227-234
  • Jeukens CRLPN, Kütterer G, Kicken PJ, et al.: Gonad shielding in pelvic radiography: modern optimised X-ray systems might allow its discontinuation. Insights Imaging. 2020 Feb 7;11(1):15.
  • SSK 2018. Verwendung von Patienten-Strahlenschutzmitteln bei der diagnostischen Anwendung von Röntgenstrahlung am Menschen. Empfehlung der Strahlenschutzkommission und wissenschaftliche Begründung. Verabschiedet in der 297. Sitzung der Strahlenschutzkommission am 13./14. Dezember 2018 https://www.ssk.de/SharedDocs/Beratungsergebnisse_E/2018/2018-12-13_Patient
  • AAPM, 2017. Position statement on the use of Bismuth shielding for the purpose of dose reduction in CT scanning. American Association of Physicists in Medicine, Policy Number PP 26-B. https://www.aapm.org/publicgeneral/BismuthShielding.pdf
  • AAPM 2019. American Association of Physicists in Medicine. Position statement on the use of patient gonadal and fetal shielding. AAPM Policy number PP 32-A
  • Hiles P, Gilligan P, Damilakis J, et al.: European consensus on patient contact shielding. Insights Imaging. 2021 Dec 23;12(1):194.
  • Granata C, Sofia C, Francavilla M, et al.: Let’s talk about radiation dose and radiation protection in children. Pediatr Radiol. 2024 Aug 3. doi: 10.1007/s00247-024-06009-0. Epub ahead of print. PMID: 39095613.
  • Schreyer AG, Schneider K, Dendl LM, et al.: Patientenzentrierte Radiologie – Eine Hinführung durch ein narratives Review. Rofo. 2022 Aug;194(8):873-881
  • European Society of Radiology (ESR). ESR concept paper on value-based radiology. Insights Imaging 2017 (8): 447–454

 

Dr. Gerald Pärtan
Vorstandsmitglied des VMSÖ (www.strahlenschutz.org)
Institut für diagnostische und interventionelle Radiologie
Klinik Donaustadt, 1220 Wien, Langobardenstraße 122
gerald.paertan@gesundheitsverbund.at
gpaertan@gmail.com

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